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Im Kopf? Im Bauch? Im Herzen?

Manchmal frage ich mich, welche Erinnerungen meine eigenen sind und welche ich nur von anderen übernommen habe. Für mich ein recht guter Anhaltspunkt ist, zumindest wenn ich weit zurück in meiner Kindheit gehe, ob ich zu diesem Erlebten eine Fotografie zur Verfügung habe oder nicht. Ich glaube zum Beispiel oft, mich sehr gut an meinen Opa zu erinnern, der leider schon gehen musste, als ich erst sechs Jahre alt war. Doch habe ich in meinen Gedanken an ihn fast immer nur das Bild im Kopf, wo ich auf seinem Schoß sitze und er seine Pfeife raucht. Also, woher kommt diese Erinnerung? Aus dem Herzen oder aus dem Album? Oder die Erinnerung an das Abschneiden meines langen, sonnengebleichten Zopfes im Sommer, als ich vier war. Ich glaube nicht, dass ich wirklich noch weiß, wie es sich anfühlte, plötzlich keine langen Haare mehr im Nacken zu haben. Es gibt hier zwei schöne Fotos, zuerst mit langem Pferdeschwanz zum Geburtstag meiner Mutter im Frühsommer, dann mit kurzem Burschenschnitt am Wasser in Italien spielend. Und es gibt den Zopf, den ich in einer Schachtel immer noch sorgsam aufbewahre. Also viele Erinnerungshilfen. Dass ich weit draußen am Wörthersee einmal vergaß, ohne Schwimmflügel noch nicht schwimmen zu können, einfach aus dem Boot ins Wasser sprang und mein lieber Papa einen flotten sportlichen Einsatz zur Rettung des Kindes an den Tag legte, das weiß ich sicher nur aus Erzählungen. Es hat bei mir offensichtlich dieses Untergehen im türkisblauen Seewasser wirklich keinen bleibenden Eindruck hinterlassen, habe ich das kühle Nass doch immer über alles geliebt – davor und danach.

 

An gewisse Besuche bei Verwandten kann ich mich auch noch sehr gut erinnern, vor allem, wenn diese Familien so ganz anders lebten und wohnten als wir. Die Halbschwester meiner Oma war reich verheiratet und lebte in einem riesengroßen Haus, Praxis des Mannes und familieneigenes Schwimmbecken in zwei Nebengebäuden! Diese Besuche, das Schwimmen und Plantschen, das Sitzen in den tiefen, kühlen, mittelbraunen Ledersofasesseln in deren Wohnzimmer und das Musizieren ihrer Kinder sind mir so nah, als wäre es erst wenige Jahre her. Hier bin ich wohl in meinem eigenen Bilder- und Gefühlespeicher, denn die Kühle der Ledersessel oder das Geigenspiel des Mädchens haben meine Eltern wahrscheinlich nicht so geprägt wie mich. Wo ich mir ganz sicher sein kann, dass ich von keiner übertragenen Erinnerung spreche, sondern von meiner eigenen, ist, wenn in mir die Bilder zu den Lausbubenstreichen aufsteigen, die ich meistens mit meinem Bruder, manchmal auch gemeinsam mit dem älteren Cousin, angestellt habe. Da gibt es nämlich keine Fotos und es gibt auch gewiss keinen Erwachsenen, der uns hiervon etwas erzählen könnte – denn hier wurde auf Geheimhaltung geachtet! Wie ich mit dem BMX-Rad den Schotterforstweg aus dem Wald hinuntergerast bin, ohne bremsen zu können, weil die Reifen und Bremsbacken nass von den davor durchradelten Pfützen waren, wie ich gerade noch irgendwie die scharfe Kurve erwischt habe und nicht im Maisacker gelandet bin, diese Erinnerung regt sich heute noch in meinem Bauch! Und auch wenn ich mich selbst nicht gesehen habe, ich kann heute noch spüren, wie weit meine Augen aufgerissen waren, mir der Mund offen stand, und wie sehr mir dann, das Rad weit hinter der Kurve im Flachen endlich zum Halten gebracht, das Herz klopfte. Eindeutig keine Fotoerinnerung. Dass ich meinem Bruder einmal im Zornesgefecht alle Knöpfe aus seinem schönen Hemd gerissen habe (ich hatte ihn am Kragen gepackt aus Zorn, dass er nicht aus meinem Zimmer gehen wollte, und er versuchte sich natürlich loszureißen), das sehe ich auch noch heute vor mir, wenngleich es von dieser Geschichte auch die Erzählperspektive meiner Mutter gibt. Vom Brotkrustenkletzeln an den frisch gebackenen Brotlaiben, vom Knistern und Knacksen im und Zischen bei überkochendem Wasser am riesengroßen Küchenherd meiner Oma im alten Bauernhaus oder vom Mooshäuserbauen im Wald hinterm Hof gibt es auf alle Fälle keine Bilder – alles Kinderabenteuer, Momente, die mit Geräusch, Geruch, Geschmack, Licht und Farbe in mir sind. Und das Bild meiner Oma, wie sie im alten Loisi-Zimmer stand, mit dem schweren uralten Bügeleisen in der Hand, um eine Ratte zu erschlagen, das habe ich definitiv auch nur in mir und nicht auf Papier. Für mich und für die Ratte war ich sehr froh, dass Oma sie nicht erwischte, wollte ich mir nicht einmal im Traum ausmalen, wie so eine zermalmte Bügeleisenratte am schönen alten Holzschiffboden aussehen würde ...

 

Ganz stark sind Erinnerungen auch an Begebenheiten, wo wir so richtig Schimpf bekamen. Bildmaterial aus solchen Momenten eindeutig ausgeschlossen! Ein Nachbar meiner Oma erwischte uns beim Zündeln auf der Hausbaustelle meiner Tante – er hatte die Rauchfahnen von weither aufsteigen gesehen und kam sofort angefahren aus Angst vor einem größeren Brand. Sein vor Zorn gerötetes Gesicht, sein innerliches Beben, natürlich seine laute Stimme und die ausgesprochenen Drohungen verängstigten mich so, dass ich mich monatelang nicht an seinem Haus vorbeiwagte und große Umwege in Kauf nahm, um nur ja nicht noch einmal seinem Blick zu begegnen.

 

Eines weiß ich auch noch ganz genau, und hier gibt es sicherlich keine Erinnerungsstützen von außen: wie ich am offenen Grab meines Großvaters stand und vor lauter Weinen und Durchschütteln und Nicht-glauben-Können, dass er wirklich gegangen war, die Hände des Pfarrers auf meinen Schultern zwar wahrnahm, aber um nichts in der Welt aufblicken oder dankend nicken konnte. Wie ich einfach auch nicht weggehen wollte von dort, weil ich spürte, dass ich dieses letzte Zusammensein noch so weit wie möglich in die Länge ziehen musste. Wenn ich jetzt ginge, wäre ich dann ja für immer von ihm fort! Diese Zeilen schreibend bin ich mir nun doch auch endlich gewiss, dass ich noch spüre, wie ich auf seinem Schoß saß, als er die Pfeife paffte und es so gut roch – nach ihm, nach dem Wohnzimmer im alten Bauernhaus, nach dem Pfeifenrauch ... So viel Wärme und Zufriedenheit und Geborgenheit kann man sich nicht aus einem Foto „herauserinnern“. Ja, du lieber Opa, der du so früh gegangen bist, du bist doch wohl ganz fest in meinem Herzen festgehalten!

 

 

Eva Adelbrecht

Team von Buchhandlung und Verlag Pfeifenberger

Lektorin & Autorin

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