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Aufgehoben

Wie alt bin ich? Wie alt fühle ich mich? Werde ich durch jeden Menschen, den ich aus meiner Umgebung verliere, selbst auch spürbar älter? Sind, als ich jünger war, weniger Menschen aus meinem Kreis verstorben? Weil ich jünger war, weil sie jünger waren? Oder ist es ganz einfach so, dass, je älter man wird, auch mehr Menschen rundherum von uns bewusst wahrgenommen sterben, weil wir eben auch Stück für Stück näher an unser Lebensende rücken? Mehr darüber nachdenken? Hellhöriger sind, wenn es um das Ableben geht? Wird es leichter, je öfter man es miterlebt hat? Wird es normaler? Oder leidet man mehr mit, weil man aus eigener Lebenserfahrung immer besser und genauer weiß, wie schmerzhaft es ist, diesen oder jenen Menschen in dieser oder jener Beziehung zueinander zu verlieren? Identifiziert man sich nicht ständig mit genau der Rolle, die eine bekannte Hinterbliebene, ein lieber Hinterbliebener innerhalb einer Familie einnimmt? Wie ginge es mir, wenn mein Cousin versterben würde? Der, mit dem ich groß geworden bin, mit dem ich Streiche gespielt habe, zu dem ich aufgeblickt habe, der eigentlich nur sieben Jahre älter ist als ich? Der Altersabstand bleibt ja ein Leben lang gleich, nur wenn dieser liebe Cousin plötzlich unter einer todbringenden Krankheit leidet, rückt er dem Lebensende unsagbar schneller näher und ist doch immer nur noch sieben Jahre älter ... Ist es in irgendeinem Lebensalter leicht, jemanden Geliebten gehen zu lassen? Ist es immer gleich schwer? Oder hängt die Beantwortung all dieser Fragen schlussendlich nur mit der eigenen, ganz individuellen Glaubensüberzeugung zusammen? Wie kann ich mit meiner eigenen Sterblichkeit zurande kommen? Wie verstehe ich sie? Wie fühle ich sie? Macht sie mir Angst? Schränkt sie mich ein? Spüre ich sie? Ist sie mir ständig bewusst, und wenn ja, befreiend oder bedrückend? Lebe ich anders, wenn ich mir die allzeit existierende Möglichkeit eines plötzlichen Endes meines irdischen Daseins vor Augen halte? Relativiert sich dadurch manches? Verliert einiges dadurch an Bedeutung?

 

Ja, warum stelle ich mir genau heute Abend all diese Fragen? Warum tauchen in mir heute all diese Gedanken auf, müde, wie ich eigentlich bin, nach einem sehr langen und ausgefüllten, mit Leben ausgefüllten Tag, begonnen am Frühstückstisch mit meinen Kindern, fortgesetzt am Fußballplatz mit drei Spitzenteams aus spielwütigen und ehrgeizigen Nachwuchssportlern, weitergeführt zu Hause mit einer wunderbaren Mittagstischüberraschung meiner Großen, lebhaft ergänzt am Nachmittag durch einen allerliebsten Besuch meiner zwei Cousinen mit Kindern, zwei lachend und spielend, vor ein paar Jahren in unsere schöne Welt geboren, eines gerade in Vorbereitung aufs baldige Geborenwerden, Geerdetwerden, Leben Leben Leben von sechs in der Früh bis sechs am Abend, rundherum und so intensiv spürbar? Weil ich soeben die Nachricht bekommen habe, dass ein ganz lieber Mensch, der so viele Talente hatte, vor allem das Talent, alle um sich herum stets zum Lachen zu bringen, nach einer lange mit Humor und Lächeln getragenen Krankheit nun von uns gegangen ist. In seiner Jugend ist mein Mann mit ihm viel Rad gefahren. Beide sind ähnlich alt. Wir haben ein schönes handwerkliches Erinnerungsstück in unserem Haus an ihn. Gerade heute, mit meinem Besuch, haben wir seine Arbeit bewundert und genossen, hatten es gemütlich darauf und haben so an ihn gedacht. Nicht wissend, dass er aus dem Höheren nun schon, vielleicht lachend, dabei ist und sich denkt, stimmt, auch da habe ich etwas hinterlassen, was mich in der Erinnerung der Menschen unsterblich macht. Ich hoffe, dass er dies tut. Und es ist wieder einmal, wie so oft, wenn ein Mensch geht, eine Hoffnung fürs eigene Herz. Es ist mir in diesem Moment der einzige Trost, dass diese Seele, sofern sie das braucht (denn das wissen wir ja alle nicht), sich aufgehoben fühlt in unserer Erinnerung.

 

Ich weiß noch sehr gut – daran habe ich ewig nicht mehr gedacht, doch beim Niederschreiben dieser Gedanken kommt auch auf einmal diese Erinnerung hoch –, dass ich mir als Jugendliche im Kopf zusammengezählt habe, wie viele Menschen bis damals bereits verstorben sind, die ich gekannt hatte. Es war anlässlich des Vonunsgehens einer jungen Frau, die zwei kleine Kinder noch gerne groß werden gesehen hätte. Ich war, mit neunzehn, ziemlich erschrocken darüber, wie viele es bereits waren, obwohl ich erst so jung war. Und ich dachte mir damals auch wirklich, Herr im Himmel, wie viele liebe Menschen werde ich im Laufe meines ganzen Lebens verabschieden müssen?! Es sind noch viele dazugekommen. Natürlich werden es auch mehr, weil man das große Glück hat, immer mehr Menschen zu seinen Freunden, zu seinen geschätzten Bekannten zu zählen. Der Auswahlbereich wird stetig größer. Was ich dennoch nicht akzeptieren kann und auch nie verstehen werde, ist das Ableben von zu jungen Menschen. Es geht mir einfach nicht in den Kopf, warum ein Kind mit nicht einmal acht Jahren nicht mehr Zeit auf Erden beschieden ist. Warum eine lebensfrohe Studentin von einem betrunkenen Raser hingerafft werden muss. Warum ein begeisterter Polsterer in seinen besten Jahren nun plötzlich keine Polstermöbel mehr restaurieren wird, weil es im großen Plan anders steht. Warum die eine 97 Jahre und der andere nur 7? Warum der eine ewig gesund und der andere 20 Jahre lang krank? Warum so viel Leid? Hier muss ich aufhören zu fragen. Ich glaube, man muss das Ganze von einer anderen Seite her andenken. Ich muss es immer wieder bewusst von einer anderen Seite her andenken. Wenn man in der glücklichen Lage ist, dass vieles des nachstehend Genannten zutrifft, dann glaube ich, sollte man es sich jeden Tag sagen:

 

Danke, dass ich gesund bin.

Danke, dass meine Kinder gesund sind.

Danke, dass ich in einer Familie leben darf.

 

Danke, dass ich meine Eltern noch bei mir habe.

Danke, dass ich so viele Jahre mit meiner Großmutter zusammen sein durfte.

Danke, dass ich tief in meinem Herzen all jene, die ich nicht mehr in meiner Nähe habe, gut aufgehoben weiß.

 

Aufgehoben – was für ein himmlisches Wort.

 

 

Eva Adelbrecht

Team von Buchhandlung und Verlag Pfeifenberger

Lektorin & Autorin

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