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Schäm dich!

Scham ist ein fürchterliches Gefühl. Wer sich schämt für etwas, kommt damit, mit dieser Tat oder dieser Eigenschaft oder was auch immer es ist, nicht zurecht. Die Scham ist ein so starkes Gefühl, dass man vieles in Kauf nimmt, dass man lügt, betrügt, anderen aus dem Weg geht, sich versteckt, um ja nicht aufgedeckt zu werden, um ja nicht herzuzeigen, wofür man sich eben schämt.

 

Wir alle kennen das: Einem Kind oder uns selbst passiert etwas ganz Blödes. Etwas, wo vielleicht irgendjemand einmal zu diesem Kind (oder zu uns) gesagt hat, „schäm dich!“, als es schon einmal passiert ist. Oder vielleicht hat dieses Kind das einmal bei jemandem anderen gesehen oder gehört und weiß, dass das etwas zu schämen wäre. Und weil es eben nicht will, dass irgendwer weiß, dass da jetzt etwas zum Schämen passiert ist, schummelt es lieber: Oh Mama, ich hab so geschwitzt in der Nacht! ... (wenn die Pyjamahose wieder einmal etwas feucht ist), ... ich weiß jetzt auch nicht, wo die Schulhose hingekommen ist! ... (und staubsaugend finden wir sie im letzten Eck unter dem Bett, zusammengeknüllt und natürlich mit fetten Gras- und Erdflecken an den Knien), ... ui, schon so spät, ich muss jetzt leider schnell heim ... (wenn die anderen noch im düsteren Dämmerungswald weiter Räuber und Gendarm spielen und einer dieses Halbdunkel eben so gar nicht mag). Ja, als Eltern können wir viele Beispiele finden und erinnern uns selbst aus unserer Kindheit wahrscheinlich noch an Situationen, in denen uns die Notlüge eindeutig lieber war als die Wahrheit, die uns ganz einfach peinlich war. Und wenn wir ganz ehrlich sind, werden wir wahrscheinlich sogar noch im erwachsenen Alltag Momente haben, in denen wir es nicht ganz so eng mit der Wahrheit nehmen – beispielsweise, wenn wir doch tatsächlich, wegen unzähliger Alltagsaufgaben, auf etwas oder jemanden völlig vergessen haben. Oder wenn wir in einer Diskussionsrunde das Gefühl haben, dass wir jetzt als einzige keinen blassen Schimmer von dem haben, worüber der ganze Rest intensiv diskutiert und bestens Bescheid weiß.

 

Und wenn es dann spürbar eng wird mit dieser Schummelei oder Notlüge oder individuellen Wahrheitsauslegung, dann geht das Ganze, gerade bei Kindern, ziemlich rasch auch in Aggressivität über. Angriff ist der beste Weg der Verteidigung! Komm mir ja nicht zu nahe mit deiner Wahrheitsfindung oder ich hüpf’ dir ins Gesicht und kratz’ dir die Augen aus! Wenn man solche Situationen allerdings mit etwas Diplomatie angeht, die Jungen nicht gleich mit wahrheitsfindenden Fragen konfrontiert und in die Enge treibt, sondern vielleicht eine ähnliche Geschichte serviert, wie es einem selbst einmal ergangen ist als Kind, ohne überhaupt zu erwähnen, warum man das Ganze genau hier und jetzt erzählt, dann kann man sie schon auch ganz gut aus ihrem Mäuseloch herauslocken, ohne dass sie es merken, ohne dass überhaupt groß etwas ausgesprochen werden muss. Dann kann plötzlich die größte Schmach gegen ein lustiges Miteinanderlachen eingetauscht und der Kummer eines kleinen Kinderherzens mit Leichtigkeit und Humor ausgeschüttet werden, sozusagen rausgelacht – ohne dabei ausgelacht zu werden. Solche Diplomatiestreiche sind oft Hochseilakte, wo durchaus Balance und Fingerspitzengefühl gefragt sind. Doch ach wie groß ist die Erleichterung (allerseits), wenn man jemandem hilft, sich hinter nichts verstecken zu müssen, sondern einfach das ganze loswerden zu können!

 

Es gibt Umstände, die sind größer, schlimmer, schwerwiegender, wo die Angst vor der möglichen Schmach beim Aufdecken des Verheimlichten so groß ist, dass die Lebenslüge das geringere Übel zu sein scheint. Ein ganz imposantes Beispiel für solch eine Geschichte ist die Erzählung „Der Vorleser“ (Bernhard Schlink), die auf eindrucksvolle Weise zeigt, wie stark die Scham darüber sein kann, nicht dem zu entsprechen, was gesellschaftlich als normal und auch vorausgesetzt gilt. Eine junge Frau, unter dem Nazi-Regime als Aufseherin von KZ-Gefangenen tätig, schämt sich so sehr, Analphabetin zu sein, dass sie lieber zwanzig Jahre in Haft geht, als dem Gericht, ihren Mittäterinnen von damals, der Öffentlichkeit, einfach allen rundherum zu gestehen, dass sie in ihrem Leben weder lesen noch schreiben gelernt hat. Hätte sie diese Tatsache offenbart, sie hätte dadurch bewiesen, nicht die Hauptverantwortliche für einen massenmörderischen Befehl gewesen sein zu können. Die Scham war zu groß, das Übel, jahrelang im Gefängnis zu sitzen, geringer und erträglicher als diese Schande, dieses Geständnis. Das Buch habe ich schon vor langer Zeit gelesen, es hat mich sehr betroffen und nachdenklich gemacht, ich habe es bald darauf neuerlich gelesen. Vor ein paar Tagen nun habe ich mir den Film dazu angesehen. Und war wieder tief berührt. Es scheint für einen nicht Betroffenen nicht nachvollziehbar, wie jemand so eine Entscheidung treffen, so eine folgenschwere, lebensverändernde Lüge tragen kann, wo doch die Wahrheit, von außen betrachtet, scheinbar so vieles erleichtert hätte, besser gewesen wäre. Ich begann nachzudenken, versuchte mich an Situationen zu erinnern, die vielleicht für mich schmachvoll waren, wo ich selbst lieber eine größere Ungerechtigkeit in Kauf genommen hatte, als etwas zu gestehen, was für mich mit Schande und Schämen verbunden war. Natürlich, glücklicherweise, fand ich mich in meinem Leben bislang niemals in solch einer vergleichbaren schicksalhaften Situation wie diese Frau. Und doch fielen mir manche kleine Momente ein, aus meiner Kindheit und aus Begebenheiten mit meinen eigenen Kindern, die mir bestätigten, dass auch wir schon ganz ähnliche Handlungsmuster gezeigt haben.

 

Es gibt wirklich nur wenige – besondere – Menschen, und ich bewundere diese für ihre Stärke und ihr Rückgrat, die sich zu allgemein gesellschaftlich als schmachvoll gesehenen Schwächen offen und ehrlich bekennen. Die hier ganz einfach darüberstehen, all diesen Erwartungen trotzen und sagen: Richtig, das kann ich nicht, das weiß ich nicht, dieses Manko ist mir bewusst, und wenn ihr glaubt, mich dafür auslachen oder geringer schätzen zu müssen, dann tut es eben. Wenn es euch was gibt, mir nimmt es nichts.

 

 

Eva Adelbrecht

Team von Buchhandlung und Verlag Pfeifenberger

Lektorin & Autorin

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