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Minuten zählen – Minuten stehlen

Ich beneide sie alle – all diese 10-Minuten-zu-früh-Erscheiner. Jedes Mal wieder frage ich mich, wie sie es schaffen. Was sie anders machen. Warum sie so perfekte Zeiteinteiler sind und ich ...

 

... Ich mache mit einer Freundin zum Spaziergang aus. Sie kommt mich bei unserem Haus abholen, da wir sozusagen am Weg liegen. Nein, sie muss nicht läuten, ich komme dann raus zur Straße. Um zwei? Perfekt. Wir haben heute ohnedies früh gegessen. Die Küche ist rasch aufgeräumt. Ach ja, den Müllsack wollte ich noch rausbringen. Und die Salzmühle ist leer geworden, die muss ich nachfüllen. Ob ich die Hausaufgabe kurz anschauen kann? Was denn? Uhrzeitendifferenzen ausrechnen? Klar, mach’ ich schnell. Bei den Uhrzeiten bin ich ja Spezialist. Umziehen. Stimmt, umziehen wollte ich mich auch noch. Es ist kalt draußen, der Vormittag, an dem ich mich nur zwischen Büro, Kinderschreibtisch und Küche bewegen musste, hat kein wetter- und winterfestes Outfit erfordert. Im ersten Stock wird meine Anwesenheit gespürt. Da kann ich noch so durch den Gang schleichen, Kinder haben einen sechsten Sinn für Mütterpräsenz. Mamaaaaa? Warum die Formatierungspalette im Word am Sony anders aussieht als am Apple? Das musst du Bill Gates fragen. Keine Ahnung. Aber komm, versuchen wir schnell, den entsprechenden Befehl zu finden, damit du es fertig machen kannst. Ob ich eigentlich Zeit habe? Nein, aber die zwei Minuten nehme ich mir noch für dich. Dafür hütest du mir dann ja deinen Bruder für eine Stunde. Eine Hand wäscht die andere. Und da klingelt es an der Tür. Aber ich wollte doch ... Ich hatte doch vorgehabt... Beim Badezimmerfenster rufe ich runter: „Bin gleich da!“ Und wieder einmal ist es mir zu blöd, nicht nur nicht die Erste, sondern eben die Letzte zu sein.

 

Das nächste Mal mach’ ich es anders, besser.

 

Das nächste Mal ist ein beruflicher Termin. Besprechung. Punkt 8.00 Uhr. Das geht ganz leicht, die Burschen gehen um 7.00 Uhr außer Haus, die Große hat Zoom-Meeting und kann mich also nichts fragen, der ganz Große ist ebenfalls schon in der Arbeit. Ich kann mich ganz alleine ohne Ablenkung um meine Zeiteinteilung kümmern. 25 Minuten vor dem Termin gehe ich außer Haus. Habe ich mir fest versprochen. Das wäre doch gelacht, heute bin ich die Erste! Anziehen braucht nicht lange bei mir, schminken gibt es nicht. Die Küche kommt mir in die Quere – den Frühstücksbazar unaufgeräumt zu hinterlassen und zweieinhalb Stunden später so vorzufinden mag ich gar nicht, doch das ist ja keine große Herausforderung. Ein Stock höher: die Burschenbetten – dass die das noch nicht in ihrer Routine haben!! Mach’ ich, gelüftet muss ja schließlich auch werden, und während dieser fünf Minuten kann ich doch wohl leicht zwei Kissen ausschütteln und zwei Decken zusammenlegen. Ohhh – Praxistelefon! Wenn vielleicht wer abgesagt hat, gestern Abend oder heute ganz in der Früh und ich das erst kurz vor Mittag abhöre, das wäre schade. Also gut, kurz eingeschaltet, Anrufbeantworter abgehorcht, eh nix drauf. Aber besser einmal zu viel als einmal zu wenig ... Das Lüften lässt mich spüren, dass es kalt ist. Sehr kalt. Sehr kalt?! Eis auf der Windschutzscheibe?! Jetzt aber schnell. Die 25 Minuten vor dem Termin sind auf 15 geschmolzen, das Eis dahingegen nicht: schmelzen, bei minus 17°C! Sehr witzig. Na dann, Eiskratzen ist ja eigentlich ganz lustig. Ja, wirklich, ich mag das, wenn ich es nicht eilig habe, macht es mir richtig Spaß, bogenförmige Muster in die rechteckige Eisplatte zu kratzen. Habe ich es eilig? Ja, mittlerweile ziemlich eilig. Was nicht so lustig ist, ist die Tatsache, dass die Scheibe innen auch vereist ist. Blöde Skiausrüstung, die mit Schneeresten an den Bindungen die ganze Nacht im Auto lag. Wollte ich das nicht gestern ...? Vergessen. Vergessen kann ich auch meinen guten Vorsatz, an diesem Tag vor allen anderen am Treffpunkt anwesend zu sein. Ich kratze. Und fluche. Und kratze weiter. Ähm, darf man eigentlich auch die Innenseite der Auto-Windschutzscheibe mit dem gleichen Eiskratzer abschaben wie die Außenseite? Diese Frage kann ich nun leider nicht klären, es fehlt schlichtweg die ... genau, richtig, die ZEIT! Die Eisflocken fliegen auf das Armaturenbrett, die Finger werden klamm und klammer, auf Ö1 wird schon jene Sendung ausgestrahlt, die immer zehn vor acht ausgestrahlt wird. Die Autofahrt wird zum halben Blindflug, das Gebläse tut sein Bestes, meine notsituationsangepassten Autofahrkünste werden erprobt. Um Punkt 8.00 Uhr höre ich die Kirchturmglocken der Besprechungsortskirche läuten, ich bin noch zirka zwei Minuten vom Zielort entfernt. Einparken. Parkuhr nicht vergessen! Handschuhe aus (Finger sind immer noch klamm). Haube runter. Maske rauf. „Guten Morgen! Kalt ist’s heute ...“, murmle ich in meinen MNS, quasi als Entschuldigung. Alle sind natürlich schon da. Gratuliere, wieder einmal – die Letzte.

 

Ich bin ja nie wirklich zu spät. Nie. Zu spät kommen und andere warten lassen, die mindestens genauso viel vorher und nachher zu erledigen haben wie ich, mag ich nicht. Ich schätze Pünktlichkeit anderer, erwarte mir diese auch, und möchte selbst ganz einfach nicht unpünktlich sein. Ich vergesse auch nie auf einen Termin. Ich bin einfach immer nur ganz knapp pünktlich oder knapp nach pünktlich. Aber ich erreiche diese knappe Pünktlichkeit nie entspannt. Nie gelassen. Nie mit dem Gefühl, ich könnte jetzt eigentlich auch noch eine schöne Runde um den Häuserblock drehen, ich könnte noch meditativ in mich gehen, ich könnte noch eine rauchen ... Nein, ich rauche nicht, ich meine nur, dieser Gedanke, dass es ja auch so viele Nikotinisten immer wieder schaffen, so was von rechtzeitig bei ihren Terminen zu sein, dass sie eine Zigarettenlänge Zeit haben, bevor sie pünktlich erscheinen. So ein Glimmstängel, der braucht doch auch mindestens fünf Minuten, bis er verheizt ist, oder?

 

Ein paar weitere Kostproben: Zu meinen Französischabenden war ich meistens joggend hin unterwegs. Oder ich nahm selbst bei Eisestemperaturen das Fahrrad, um nicht zu spät zu kommen. Oder ich nahm – was mir am allermeisten widerstrebte – für die Distanz vom einen Ende der Siedlung bis zum anderen Ende der Siedlung das Auto, um nicht ganze zehn Minuten zu spät zu kommen.

Zum Skitraining meines Sohnes kommen wir immer in letzter Minute. Macht nichts, andere kommen noch später. Doch warum muss ich ständig auf den Tachometer schauen, damit ich ja nicht vor lauter Ich-will-aber-doch-pünkltich-sein eine 70-Euro-Strafe riskiere? Schnellfahren ist nämlich im Gegensatz zum Frühwegfahren für mich keineswegs ein Problem. Das liebe ich, wäre es nicht verboten, ich würde die Spritzigkeit meines Autos noch viel mehr auskosten.

Zum Elternabend sprinte ich die Stiegen des Schulhauses bergauf, um in gewohnter Manier an der Türe zu fragen: „Es kommt eh niemand mehr, ich kann die Türe schließen?“ Alle Augenpaare blicken mich mit mehr oder weniger mildem Lächeln um die Augenwinkel (die Münder waren zuletzt hinter den Masken versteckt) an: „Nein Eva, du bist die Letzte.“ Pünktlich um sieben, keine Frage. Aber doch einmal mehr: die Letzte.

 

Es ist ein Muster, das sich durch mein Leben zieht. Immer denke ich mir, da geht sich noch dies und das und ein Drittes aus, bevor ich dann wirklich los muss, um pünktlich zu sein. Und weil dann mit schicksalhafter Gewissheit irgendeine winzige Kleinigkeit dazwischen kommt, die meinen äußerst knapp berechneten Wegzeiten noch einmal ein, zwei, drei Minuten abzwackt, wird’s zum Schluss immer eng.

 

Welch diebisches Vergnügen bereitet es mir, wenn ich es einmal schaffe, mir selbst Minuten zu stehlen! Das könnt ihr euch gar nicht vorstellen. Wenn ich einmal tatsächlich weit vor meiner Zeit lande! Erst jüngst bei einem Spaziergangs-Rendezvous mit meiner Freundin gelang es. Ich war fünf Minuten zu früh dran. Herrlich fluffiger Neuschnee lag auf den Sträuchern, auf den Zäunen, am Boden. Ich verschanzte mich hinter meinem Auto. Voll spitzbübischer Hinterlist probierte ich drückend und pressend, einen Schneeball zu formen. Kein leichtes Unterfangen mit luftigleichtem Pulverschnee. Die Vorfreude ließ es richtig kribbeln in meinem Bauch. Sie kam. Und sah mich. Bevor ich sie sah – ein Eichkätzchen hatte mich abgelenkt. Wieder einmal den Moment verpasst! Eine gestohlene Sekunde und ich war wieder die Zweite. In diesem Fall allerdings ließ ich mir die Freude nicht verderben, der nicht wirklich ballförmige Ball flog in Richtung meiner Freundin und ich feierte meinen Triumph, die Uhr und mich selbst endlich einmal überlistet zu haben.

 

 

Eva Adelbrecht

Team von Buchhandlung und Verlag Pfeifenberger

Lektorin & Autorin

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