Ameisensch....

 

Wir waren wirklich bestens vorbereitet. Die gesamte Truppe. Alles war abgesprochen, alles geplant und bedacht. Alle Aufgaben verteilt, alle Zeitabläufe koordiniert. Es konnte gar nichts mehr schiefgehen!

 

Konnte es doch ... Fünf Uhr und zwanzig Minuten: Tagwache. Der Mittlere hat die Klotür zwar mit Bedacht, aber doch so laut zufallen lassen, dass die im Unterbewusstsein höchst alarmierte, auf jegliches Startzeichen zum Vatertags-Opening total konditionierte Mutter hochschnellt und sogleich aus den Federn springt, da durch den kleinen Spalt des Vorhangs bereits Licht fällt und es ja sein könnte, dass sie vielleicht doch verschlafen hat. Der Blick auf den Wecker im Badezimmer ist ernüchternd. So leise kann die Mutter, also ich allerdings meine Schritte gar nicht setzen, der in meinem Büro schlafende Kater hört mich immer. Ein leises Scharren an meiner Bürotür verrät mir, dass ich mich nicht mehr davonstehlen kann. Ich gebe auf. Kater raus aus dem Büro, Fressnäpfchen gefüllt, warten, bis er knuspernd alles vertilgt hat, Gartentüre auf, bis später. Nur noch ein bisschen unter die Decke ... Ich kuschle mich aufs Gästezimmersofa, will ich doch den Morgenschlaf des heute auf Händen zu tragenden Vaters nicht durch ein weiteres Türöffnen und Bettdeckenrascheln gefährden. Bald schon läuten die Kirchenglocken. Ein bisschen noch. Dann höre ich den WC-Türen-Knaller. Guten Morgen, hol’ mir nur ... Ja ja, nimm dir nur. Ganz absichtlich wird heute der Internetzugang großzügig gestattet, einfach damit Ruhe ist. Unruhestifter brauche ich am Sonntagmorgen prinzipiell nicht, und schon gar nicht, wenn es ein schönes, harmonisches Frühstück zu richten gilt. Sonst gäbe es natürlich pädagogisch wertvoller ein Buch und die Bitte, leise im Zimmer zu lesen, doch Feiertagsausnahmen bestätigen die Regeln. Weitere zehn Minuten später schleicht mein Frühstücksassistent bei der geöffneten Türe herein. Er war plangemäß dafür eingeteilt, mich um halb acht zu wecken (ha ha). Liebevoll kuschelt er sich zu mir und sagt, bleib du nur noch liegen, oder nein, komm zu mir ins Wohnzimmer, dann bist du näher bei mir (er ist einfach ein Herzenskind), ich wecke dich um halb acht. Er beginnt zu bauen. Mit Holzbausteinen. Sachte, behutsam, leise, es klappert dennoch die ganze Zeit – behutsam und leise eben. Macht nichts, fange ich eben diesen besonderen Sonntag mit etwas Lektüre an. Wer weiß, ob so eine ruhige Stunde heute noch einmal kommt.

 

Dann der Anpfiff zum Frühstücksrichten, pünktlich um sieben Uhr und dreißig Minuten. Wir decken gemeinsam den Tisch. Unser Jüngster macht das wirklich voll Hingabe und Sinn für Ästhetik: Teller, Besteck, Gläser, Tassen, Marmeladen, Butter, Brotkorb, Blumen (die Früchte- und Joghurtspezialistin ist für acht Uhr bestellt, dank ihrer jugendlichen Flinkheit darf sie dreißig Minuten später ins Geschehen einsteigen), ... Honig – Mama, wo ist der Honig? Hm, ja, eigentlich immer da, wer hatte ihn den zuletzt, ach ja, das war gestern Abend, du wolltest süß, ... der Besuch hat uns geholfen wegzuräumen, vielleicht hat er ihn, ... OH NEIN!

 

Er hat ihn genau dorthin gestellt, wo man bei uns derzeit sicher nichts Süßes abstellen darf. Am Küchenblock, der an die Gartentüre angrenzt. Ameisen haben einen Geruchssinn für Süßes. Ameisen haben gute Kommunikationsfähigkeiten. Ameisen finden durch jede noch so kleine Lücke im Fensterblech. Ameisen lieben Honig. Das ganze Glas war schwarz. Außen und innen. Es ist ein Honigtopf mit Klappdeckel und kleiner Löffelaussparung im Deckelrand, damit der Honigwabendrehlöffel immer drinnen bleiben kann. Der perfekte Kinder-Honigtopf eben. Die perfekte Eintrittspforte für kleine Sechsbeiner auch. Mein Jüngster muss sich krampfhaft an meinem Hosenbund festklammern, um nicht gleich in Tränen auszubrechen. Nicht wegen der im Honig bereits zahlreich umgekommenen Ameisen, dieses Mitleid verspürt er in diesem Moment nicht. Viel eher, weil ihn doch gewissermaßen der Ekel packt. Eine Ameise ist elegant. Ein paar Ameisen wirken emsig. Zweihundertfünfzig Ameisen auf seinem geliebten Honigtopf wirken einfach nur grausig! Ich bleibe ruhig, packe all meinen Ärger über den falschen Platz für den süßen Lockvogel weg und sage, ich würde mich darum kümmern. Nehme Honigtopf und Löffel und mache mich auf zu unserem Biomüllplatz im Garten. Versuche, jede einzelne Ameise zu retten, die noch zu retten ist. Verabschiede alle anderen in ihren viskosen Honigsärgen ehrenvoll in den Biomüll hinein. Überrede selbst die noch am Glasrand suchenden Sechsbeiner, doch besser ins Gras abzuwandern. Mühevoll und mit äußerster Vorsicht gehe ich zu Werke. Erleichtert tappe ich barfuß durchs feuchte Gras zurück zum Haus. Den ameisenfreien Honigtopf wie eine Trophäe in der Hand: Schau, ich habe es geschafft, es waren dann eh nicht so viele, die im Honig ... (voll geschummelt), die meisten waren eh nur außen ... Und wie ich durch die Gartentür in die Küche trete, voll Stolz, das so gut hinbekommen zu haben, genau in dieser Sekunde löst sich das Glas vom Deckel (eigentlich ein Schraubverschluss, der sich wahrscheinlich bei meinem ameisenrettenden Herumhantieren gelockert haben muss) und das schöne Honigtöpfchen samt seines bernsteinfarbenen Restinhalts knallt auf den Steinboden. Zerschellt in tausend Scherben, winzig kleine Scherbenspritzer landen bis in den letzten Winkel des Esszimmers, große Glastrümmer verkleben sich mit dem restlichen zähflüssigen Bienengold und schmieren über den Steinboden. Ein leises „Geh bitte ins Wohnzimmer“ ist alles, was ich noch über die Lippen bringe. Der Rest ist stummes Saustallaufräumen mit unzähligen blöden Gedanken im Kopf, „hätt’ ich doch ...“ und „wär’ ich doch ...“. Mit jeder weggeworfen Scherbe verraucht der Ärger ein bisschen mehr. Und dann denke ich: Vielleicht besser so. Wer weiß, was die Ameisen in ihrer Todesangst da alles abgesondert haben in unseren schönen Honig.

 

Die gute Nachricht: Ich habe mich nicht geschnitten. Der Stein ist ohne Macke davongekommen. Wir hatten noch Reservehonig in der Speisekammer. Die Früchte- und Joghurtspezialistin hat sich neben Obstschnippeln auch dem Trösten ihres Bruders gewidmet. Der Vater wurde von dem Knall nicht wach (wahrscheinlich, weil er honigschallgedämpft war). Selbst Semmelholen beim Bäcker ging sich noch aus.

 

Und pünktlich um halb neun brodelt der Kaffee in der italienischen Kaffeemaschine, der liebevoll aus dem Schlafgemach geholte Vater schreitet die Stiege herab und freut sich über einen reichlich gedeckten Tisch mit drei freudestrahlenden Kindern rundherum. Nichtsahnend. Gut so. Wenn sie jetzt wie aus einem Munde „Ameisenscheiße“ sagen würden, wie sie das in Kindergarten und Schule stets bei den Gruppenfotos machen, um simultan zu grinsen, mein Mann würde nicht einmal die Pointe dieser Zweideutigkeit erschnuppern. So perfekt haben wir alles verschwinden lassen. Bei Filmen ahnt man ja auch nicht, was alles in die Hose geht und wie häufig gewisse Szenen gedreht werden müssen, bis sie endlich im Kasten sind. Das Making-of kann man von unserem Vatertagsfrühstück glücklicherweise nicht als Extra nachsehen. Und geschmeckt hat es allen.

 

PS: Wie ich auf Ameisisch nun dem Rest der Truppe (die Größe der Kompanie ist mir glücklicherweise nicht bekannt) so bald als möglich eindringlich und unmissverständlich erkläre, dass die süße Quelle versiegt ist und es einfach nichts mehr zu holen gibt, das weiß ich noch nicht. Es wird wohl noch ein Weilchen dauern. Bis dahin: Geduldiges Zusammenkehren der versprengten Soldaten und Abtransport mit Gratisflug in die frühsommerliche Wiese. Mein tier- und insektenfreundliches Herz erlaubt keine andere Lösung. Ich habe ja sonst nichts zu tun an einem so schönen, ruhigen Vatertag ...

 

 

Eva Adelbrecht

Team von Buchhandlung und Verlag Pfeifenberger

Lektorin & Autorin

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